Singen gegen das Vergessen: Wie Musik die Lebensqualität von Menschen mit Demenz revolutioniert

Kann gemeinsames Singen wirklich den Alltag von Menschen mit Demenz verändern? Prof. Dr. Kai Koch von der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe sagt: Ja – und zwar tiefgreifend! In einem Interview mit Hier klingt’s mir gut erläutert der Experte, wie Musik emotionale Erinnerungen weckt, die Kommunikation fördert und sogar das Wohlbefinden steigern kann. Welche Lieder sind besonders geeignet? Warum braucht es biografische Anknüpfungspunkte? Und wie können Angehörige den Zugang erleichtern? Eines ist klar: Singen ist weit mehr als ein Zeitvertreib. Ein Blick auf die oft unterschätzten Möglichkeiten musikalischer Teilhabe.

Wie kann das Singen den Alltag von Menschen mit Demenz positiv beeinflussen?

Das Singen kann den Alltag von Menschen mit Demenz auf vielfältige Weise bereichern. Musik aktiviert emotionale Erinnerungen, die oft auch bei fortgeschrittener Demenz erhalten bleiben – sie bietet auch die Möglichkeit, an Biografien anzuknüpfen und Gesprächsanlässe zu initiieren. Besonders vertraute Melodien und Texte können Gefühle der Freude, Geborgenheit und Zugehörigkeit hervorrufen, aber auch negative Situationen, die unter Umständen mit der Musik und der Erinnerung verwoben sind. Das regelmäßige Singen kann eine Struktur im Tagesablauf schaffen, die Sicherheit und Orientierung gibt. Das Singen ist eine niedrigschwellige Möglichkeit kultureller Teilhabe und zudem eine soziale Aktivität, die Isolation entgegenwirken und die Teilnehmenden auf Augenhöhe in eine Gemeinschaft integrieren kann. Darüber hinaus fördert Singen die Ausschüttung von Glückshormonen wie z. B. Endorphinen, was u. a. Stress reduzieren, Unruhe entgegenwirken und die Lebensqualität im Allgemeinen verbessern kann. Selbst bei sprachlichen Einschränkungen kann Singen die Kommunikation unterstützen und aktivierend wirken, sodass Menschen wieder zum Sprechen finden. Gemeinsame Singangebote für Menschen mit Demenz und deren Angehörige oder Pflegende können eine besondere Qualität der Begegnung und Kommunikation ermöglichen, die im Alltag vielleicht sonst nicht mehr gegeben wäre.

Welche langfristigen Effekte können regelmäßige Singstunden auf die Verfassung der Betroffenen haben?

Regelmäßige Singstunden können sich langfristig positiv auf die kognitive und emotionale Verfassung von Menschen mit Demenz auswirken. Das Singen trainiert Gedächtnis, Konzentration und Sprachfähigkeit, wodurch diese Fähigkeiten länger erhalten bleiben können. Gleichzeitig steigert es die Lebensqualität der Betroffenen, da sie sich durch die Musik emotional stabiler und wohler fühlen. Der Aufbau von sozialen Bindungen innerhalb der Singgruppe wirkt Isolation entgegen und stärkt das Gefühl von Zusammenhalt. Darüber hinaus fördert das gemeinsame Singen motorische Fähigkeiten, beispielsweise durch rhythmisches Klatschen oder sanfte Bewegungen. Langfristig kann auch die Stressreduktion durch das Singen, etwa durch die Senkung des Cortisolspiegels, eine positive Wirkung auf die Gesundheit haben.

Welche besonderen Herausforderungen gibt es bei der Arbeit mit Demenzchören?

Die Arbeit mit Demenzchören bringt besondere Herausforderungen mit sich und stellt vor allem Anforderungen an die Struktur und das Format des Chores. Wichtig ist aber zunächst, dass es ganz unterschiedliche Singformate für Menschen mit Demenz in Abhängigkeit zu den jeweiligen Voraussetzungen gibt; das Spektrum reicht von Singgruppen in Einrichtungen der Altenhilfe bis hin zu inklusiven Gruppen (auch für Quartiere oder/und Angehörige) oder Chöre, die durch Begleitstrukturen Menschen mit Demenz bei der üblichen Probenarbeit unterstützen. Viele Teilnehmende haben Schwierigkeiten, sich über längere Zeit zu konzentrieren oder sich zu orientieren, was ein hohes Maß an Flexibilität, Empathie und Kommunikationsfähigkeiten von Chorleitenden sowie eine angemessene Berücksichtigung von ganz unterschiedlichen Rahmenbedingungen erfordert (Barrierefreiheit des Probenorts, Probenzeit, Raumgestaltung, Barrierefreiheit u.v.a.m.). Die emotionale Verfassung der Teilnehmenden kann sich zudem situationsbedingt ändern, was eine gewisse Situativität notwendig macht und ggf. auch eine multiprofessionelle Zusammenarbeit mit Pflegenden oder Angehörigen erfordert. Besonders wichtig ist es, auf die unterschiedlichen Demenzstadien und ganz individuellen Voraussetzungen der Teilnehmenden einzugehen, da die Fähigkeiten und Bedürfnisse stark und auch entsprechend der Tagesform variieren können. Sprachliche Hürden bis hin zum Verlust der Sprachfähigkeit bei einigen Teilnehmern erfordern viel Geduld und die Nutzung nonverbaler Kommunikation. Schließlich kann auch die Dynamik innerhalb der Gruppe anspruchsvoll sein, da einige Teilnehmende mehr Unterstützung benötigen und Überforderungen vermieden werden müssen.

Welche Lieder eignen sich besonders gut fürs Singen im Alter und warum?

Diese Frage könnte man auf unterschiedliche Art und Weise beantworten, z. B. mit Blick auf ein geeignetes Repertoire: Für ältere Menschen, insbesondere solche mit Demenz, eignen sich vor allem Lieder, die in ihrer Kindheit und Jugend populär waren. Volkslieder und traditionelle Melodien wie „Am Brunnen vor dem Tore“ sind häufig tief in der Erinnerung verankert und haben einen hohen Wiedererkennungswert. Auch Kinderlieder wie „Hänschen klein“ oder „Alle Vögel sind schon da“ mit ihren eingängigen Melodien und Texten sind leicht zugänglich. Religiöse Lieder wie „Großer Gott, wir loben dich“ können eine spirituelle Verbindung schaffen und emotionale Resonanz hervorrufen. Schlager oder Hits aus den 50er- bis 70er-Jahren wecken oft starke positive Erinnerungen.

Allerdings ist die Art der Antwort häufig nicht zufriedenstellend, weil die Zielgruppe älterer Menschen sehr heterogen ist. Pauschale Empfehlungen für ein Repertoire gibt es daher nicht – gerade auch, wenn man bedenkt, dass häufig bereits mehrere Generationen bzw. Menschen mit großen Altersunterschieden gemeinsam in Altenrichtungen leben. Lokale oder regionale Besonderheiten, die eigene Herkunft, Bildungsgrad, etwaige Chorerfahrung oder musikalische Sozialisation, musikalische Präferenzen und vieles mehr haben Einfluss auf die Liedauswahl, sodass das Feld sehr komplex ist. Wichtig ist, sich dieser Individualitäten bewusst zu sein und sich mit einer breiten Repertoirekenntnis empathisch für die Gruppen zu interessieren. Dies kann erprobt werden, sich in „Versuchen“ zeigen, durch Gespräche klären oder durch eine Art Fragebogen zur Musikbiografie eruieren bzw. vermuten lassen.

Wie kann man als Chorleiter oder Ehrenamtlicher den Zugang für Menschen mit Demenz erleichtern?

In Chören kann der Zugang für Menschen mit Demenz erleichtert werden, indem entsprechend Barrieren abgebaut werden und eine einladende, sichere Atmosphäre geschaffen wird. Ein ruhiger Raum ohne Ablenkungen, der den Teilnehmenden vertraut ist, ist besonders wichtig. Kleine Gruppengrößen fördern die individuelle Betreuung und das Gefühl von Sicherheit. Auch Unterstützung auf vielerlei Weisen können den Zugang erleichtern (z. B. Orientierung, Memorierungshilfen, Patenschaften o.ä.). Bekannte Lieder und einfache Strukturen mit wiederkehrenden Abläufen geben Orientierung. Empathie und Geduld sind essenziell, da die Teilnehmenden oft unterschiedlich auf die Situation reagieren. Auch die Einbindung von Angehörigen kann eine wertvolle Unterstützung sein, um die Kommunikation und das Vertrauen zu fördern.

Wichtig wäre aber vor allem, dass man sich der Möglichkeiten unterschiedlicher Formate und der Möglichkeiten unterschiedlicher Teilhabe- bzw. Beteiligungsgrade bewusst wäre. Erste und niedrigschwellige Schritte könnten z. B. eine musikbezogene Sensibilisierungsmaßnahme wie die jüngst vom BMCO (im Rahmen des Projekts „Länger fit durch Musik“) entwickelte Demenz Partner Schulung sein (Grundlagen zu Demenz, zur Kommunikation und zu den Potenzialen von Musik und der Ensemblearbeit); dies kann sich positiv auf das private Umfeld oder auf das Verständnis von Mitsänger:innen auswirken, die ggf. selbst dementiell verändert sind oder Angehörige pflegen. Chöre könnten auch überlegen, wie Sie ihre Konzerte demenzsensibel und barrierefrei gestalten oder explizite Formate entwickeln. Aber auch Chorprojekte, Probenphasen oder eine bewusste strukturelle Öffnung der Probenarbeit für Menschen mit Demenz und deren Angehörige können Gestaltungsspielräume sein, um Teilhabe zu ermöglichen. Es geht nicht darum, alle Ebenen zu bedienen, sondern zu eruieren, welche Möglichkeiten der Öffnung sinnvoll, realisierbar und stimmig sind. 

Was raten Sie Angehörigen, die selbst gern mit ihren demenzkranken Liebsten singen möchten?

Beim Singen ist es wichtig, eine stressfreie und angenehme Atmosphäre zu schaffen, in der das Miteinander im Vordergrund steht. Es geht um Kommunikation und eine schöne gemeinsame Zeit, nicht um das „Können“. Regelmäßiges Singen kann Teil eines täglichen Rituals werden, zum Beispiel am Morgen oder vor dem Schlafengehen, um Sicherheit und Routine zu schaffen. Bewegungen wie Klatschen oder leichtes Tanzen können das Erlebnis ebenfalls bereichern und aktivierend wirken. Es ist wichtig, auf die Stimmung der Betroffenen zu achten und das Singen bei Desinteresse oder Ablehnung ohne Druck zu verschieben. Das gemeinsame Erlebnis und die Freude daran stehen über der Perfektion des Gesangs. Liederbücher, Playlists oder methodische Anregungen für das Singen im häuslichen/familiären Umfeld lassen sich gut recherchieren. 

Empfehlenswert wäre auch, in der Region die Möglichkeiten zu sichten, wo musikbasierte Angebote zu finden sind. Offene Singgruppen in Einrichtungen der Altenhilfe, Angebote oder Projekte von Konzerthäusern, Kirchengemeinden bzw. Chören und Instrumentalensembles oder auch musikgeragogische oder -therapeutische Anlaufstellen könnten aufgesucht werden. Es ist wichtig, die Netzwerke und Anlaufstellen im eigenen Umfeld wahrzunehmen, um bezüglich der musikalischen Möglichkeiten unterstützt zu werden und ggf. auch den Austausch mit anderen Familien wahrzunehmen.

Was würden Sie sich für den Bereich „Chorsingen und Demenz“ wünschen?

Ich fände es wichtig, dass Angebote und Förder- bzw. Finanzierungsmöglichkeiten weiter ausgebaut werden, dass Kenntnisse zu den Stärken, Konzepten und Gestaltungsmöglichkeiten von Chorangeboten besser publik gemacht werden und ein selbstverständlicher Teil der Professionalisierung von Chorleitenden wird. Der größte Wunsch wäre jedoch, dass diese besondere und gesellschaftlich relevante Facette von Chorarbeit mehr wertgeschätzt wird und die Menschen, die sich dafür einsetzen entsprechend Anerkennung für diese wichtige Aufgabe bekommen.

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